22.3.2025
Die Tür zum Büro stand offen, so hatte der ganze Flur etwas vonder Vorstellung, die Herr Becker, seines Zeichens Geschäftsführer eines mittelständischen Produktionsbetriebs, wieder einmal zum Besten gab: „DerTollwütige!“ Sein Paradestück, das er regelmäßig aufführte, mit wechselnden Mitspielern. Heute waren die Kollegen aus dem Marketing dran.
„Wer soll denn mit so einem Ergebnis etwas anfangen?“, tobte Herr Becker in der Tür stehend, „Wie peinlich ist das denn, nichts wird richtig gemacht! Das ist unvollständig, nur so hingeworfen. Für nichts zu gebrauchen. Wie im Kindergarten komme ich mir vor! KINDERGARTEN!“, warf er verächtlich in den Raum rein, aus dem kein Mucks zu hören war: „Alles muss ich kontrollieren und nachbessern! Ach wisst ihr was: Da mache ICH das doch besser gleich selbst!“
Ein Stück, das Herr Becker jedes Mal mit so einer Inbrunst aufführte, dass es weit über den Kreis des unmittelbaren Publikums hinaus Wirkung entfaltete. Jede einzelne Aufführung wurde im ganzen Unternehmen rezipiert, Herr Beckers Worte wurden unter die Lupe genommen, hin und her gewälzt, um daraus für die Zukunft Rückschlüsse zu ziehen. Und so hatte Herr Becker einen wirksamen Weg gefunden, sein Unternehmen an die Wand zu fahren: Ohne dass er es jedem einzeln beibringen musste, förderte er die Unselbständigkeit der Mitarbeitenden.
Verschwendung der Ressourcen
Herr Becker war, wenn er nicht gerade auf der Bühne zum Berserker wurde, ein senioriger Macher. Sehr gepflegt, sehr angenehm im täglichen Umgang, und durchaus gewillt, den Teams und Experten auf ihrem Gebiet den Raum und die Freiheit zu lassen, sich einzubringen. Ihm war bewusst, dass selbständige Mitarbeitende, die sich als Team selbst steuern, die selbstverantwortlich handeln, ein wichtiger Pluspunkt für das Unternehmen sind, weil sie effektiver in dynamischen Projekten und Märkten agieren. Er wünschte sich diese Selbständigkeit bei den Mitarbeitenden und Führungskräften und das Unternehmen stellte auch entsprechende Leute ein.
Um so größer war dann immer wieder die Enttäuschung bei ihm, zu erleben, dass trotz seines Wunsches die Mitarbeitenden viel zu oft eben nichtselbständig die Ergebnisse brachten, die er sich für den Erfolg seines Unternehmens wünschte. In solchen Momenten der Enttäuschung verwandelte er sich dann auch von einem rationalen Entscheider zum Wüterich und tobte auf der ungewollten Bühne herum.
Was Herrn Becker wieder und wieder zur Weißglut brachte, waren Effekte seines eigenen Handelns, bzw. Nicht-Handels: Etwas, das Sie in Unternehmen häufig beobachten können, wobei sich die Effekte dann nichtunbedingt so lautstark bei offenen Türen äußern.
Gehandelt wurde, weil die Führungskraft dem Team eine Idee maleben schnell zwischen Tür und Angel über den Zaun geworfen hatte: „Ich will unser Produkt in die Richtung pushen, schaut doch mal, was euch für die Zielgruppe einfällt!“
Nicht gehandelt wurde, weil die Mitarbeitenden von der Führungskraft im Unklaren darüber gelassen wurden, was es mit diesem „Schaut doch mal …“ auf sich hat. Weil die Führungskraft das Team im Unklaren über ihren Anspruch und ihre Erwartungen an die Lösung ließ. Um was ging es, um einen perfekt ausgearbeiteten Vorschlag oder einen ersten Entwurf?
Zerstörerische Dynamik
Das Anspruchsniveau ist in der Kommunikation zwischen Führungskräften und Teams nicht geklärt. Die Führungskraft schweigt sich darüber aus – und die Teams versuchen ihr Bestes. Im Fall von Herrn Beckers jüngster Tirade: Ihr Bestes bei einem ersten Entwurf, um ein Gespür dafür zubekommen, ob die Idee des Teams in die richtige Richtung geht.
Das kann gut gehen oder eben nicht. Egal, ob der Anspruch war, eine grobe Skizze zu bringen (und das Team dachte, es ginge um Perfektion), oder Perfektion gewünscht war (und das Team mal eben schnell eine spontane Idee hingeworfen hat). In Summe aber führt eine solche Unklarheit viel zu oft zu einer Verschwendung von Ressourcen: Das Team hat sich Gedanken gemacht, sich eingearbeitet, etwas ausgearbeitet, was in der Form gar nicht gewünscht war. Und eine solche Aktion bei offener Tür führt zudem noch dazu, dass alle wissen, was passiert, wenn sie mit ihrem selbständigen Handeln daneben liegen.
Die Folgen: Eine zerstörerische Dynamik, die niemand möchte bzw. niemanden weiterbringt, der es gut mit einem Unternehmen, den Mitarbeitenden, dem Team meint. Indem den Mitarbeitenden Aufgaben zugewiesen werden, deren Hintergründe sie nicht durchblicken, auf deren Gelingen sie augenscheinlich keinen Einfluss haben (glaubt man jedenfalls der schimpfenden Führungskraft), schwindet die intrinsische Motivation.
Die Unselbständigkeit nimmt zu – und weil die Ansprüche der Führungskraft offenbar eh nicht befriedigt werden können, nimmt auch die Rückdelegation von Aufgaben an die Führungskraft zu (Beispiel Herr Becker „Da mache ICH das doch besser gleich selbst“).
Was dann auch noch die persönlichen Ressourcen der Führungskraft verschwendet, die von Arbeit überwuchert wird.
Was will ich eigentlich?
Das Problem ist aber nicht nur ein Nicht-Kommunizieren des Anspruchsniveaus. Das Problem hinter diesem Problem ist, dass sich selbstständig regulierende Teams Freiheit brauchen: Diese Freiheit ist immer abhängig von den organisatorischen Rahmenbedingungen, also vor allem der formellen Macht der Entscheider. Diese Abhängigkeit zu reflektieren, ist etwas, was Entscheider bringen müssen.
Damit ein Team oder gar ein Unternehmen nicht in einem selbstgeschaffenen Kindergarten ausartet, und die Mitarbeitenden nur unselbständig vor sich hin arbeiten, ist von den Persönlichkeiten, die die formelle Macht haben, eine persönliche Leistung gefragt. Diese sollten sich fragen:
„Was will ich eigentlich? Wie gehe ich mit der Macht um, die ich habe? Was sind meine eigenen expliziten und impliziten Annahmen über die Welt, mein Unternehmen, die Mitarbeitenden? Entspricht das, von dem ich sage, ich denke dies, ich erachte das als wertvoll, auch dem, was ich alltäglich lebe und von den Mitarbeitenden erlebt wird? Wie sieht es bei mir also mit dem Verhältnis ,Deckung meiner verbalisierten Annahmen vs. Values in Action’ aus? Oder eben einem ,Missverhältnis’, für welches Mitarbeitende feine Antennenhaben.“
In diesem Spannungsfeld liegt Ihr persönliches Entwicklungspotenzial als Führungskraft. Es geht darum, fit in der Königsdisziplin der Persönlichkeitsentwicklung zu werden: Das Selbstbild und Fremdbild zu erkennen und zu verstehen.
„Welches Menschenbild habe ich? Wie sehe ich mich selbst? Und welche Wirkung erziele ich bei anderen?“ Dies sind Fragen, die sich Entscheider stellen sollten, um die Macht, die sie haben, sinnvoll einzusetzen. Und sie haben diese Macht, selbst in einem Umfeld von Selbstorganisation, allein schon deswegen, weil die, die an der Spitze stehen, immer unter Beobachtung sind: Weil die Menschen, die Teil der Organisation sind, sich in irgendeiner Weise an den Entscheidern orientieren – und zwar daran, welche Werte und Ziele an ihrem Verhalten beobachtbar sind (und nicht daran, was sie über ihr Denken, Meinen, ihre Werte und Ziele sagen) –, und im Zuge dessen auch einschätzen, wie sicher das Umfeld für sie selbst ist, wie selbständig sie sich in diesem Umfeld geben können.
Die entscheidenden Minuten
Ich persönlich habe da für mich, um mich in dieser Königsdisziplin zu üben, ein freitägliches Ritual etabliert: Ich blocke mir eine Stunde im Kalender und versuche, mein eigenes Verhalten in der Woche zu reflektieren: Was habe ich warum gemacht oder gesagt oder nicht gemacht oder nicht gesagt? War ich klar in dem, was ich kommuniziert habe? Habe ich für mich selbst geklärt, was ich wollte, wie meine Ansprüche sind? Ein hilfreiches Werkzeug ist dafür ein direktes und unverblümtes Feedback.
Das ist für mich ein wichtiger Teil von gelingender Führung: Persönliche Governance mit dem wichtigsten Bestandteil, dem Erwartungsmanagement. Mit welchen Überzeugungen, Annahmen und Erwartungen gehe ich auf die Welt zu?
Im Kontext der Arbeit kann ich im Zuge des Erwartungsmanagements mit den Mitarbeitenden aushandeln, wie Anspruch und Wirklichkeit erfolgreich zusammengebracht werden können. Ich kann sehr bewusst an meiner eigenen Kommunikation feilen, zum Beispiel an der Art und Weise, wie ich eine Aufgabe delegiere. Ob ich mir die entscheidenden Minuten Zeit nehme, um klar zumachen, um was es geht, oder ob ich die Aufgabe einfach über den Zaun werfe. Ob ich dieMitarbeitenden über ihren Handlungs- und Entscheidungsspielraum im Unklaren lasse oder es mir selbst zur Aufgabe mache, dafür zu sorgen, dass alle im Unternehmen wissen, wo die Wasserlinie des Schiffes ist, unter der nichtgebohrt werden darf.
Eine solche persönliche Governance gehört ganz entscheidend zuden Aufgaben eines Entscheiders dazu und sollte auch bewusst in den Tagesablauf eingeplant werden. Weil so die Enttäuschungspotenziale bei allen Beteiligtenaus der Zusammenarbeit herausgenommen werden können, die der Mitarbeitenden wie auch der Führungskräfte.
So lasse ich Selbständigkeit wirklich zu und vermeide, dass die Mitarbeitenden in einem Kindergarten arbeiten, den ich selbst gebaut (oderübernommen) habe.